Transparenz als politischer Wettbewerbsnachteil
Die Grünen spielen auf Clubhouse mit offenen Karten. Ein faszinierendes Experiment.
Ich hab schon einmal darüber geschrieben, wie die Grünen in der politischen Realität ankommen. Und seitdem will die Diskussion darüber nicht abreißen.
Die ganze Thematik erreichte am Donnerstag ihren Höhepunkt, als im Nationalrat angeblich der Koalitionsbruch drohte. Grund war, dass eine Sondersitzung einberufen wurde, in der sich die Grünen demütigen lassen mussten. Die FPÖ bedankte sich in einem politischen Manöver, das man nur noch als Trolling bezeichnen kann, für die Konsequenz der Grünen bei ihrer Haltung zum Thema Abschiebungen, und ein Antrag, dem die Wiener Landespartei der Grünen zugestimmt hatte, wurde aus Koalitionsräson mit der ÖVP abgelehnt.
Das grüne Dilemma
Und ich hab mein Take dazu ja bereits ausformuliert: Die Grünen haben von Anfang an klar gemacht, dass sie ÖVP-Politik mittragen werden, wenn sie dafür ein Klima-Ministerium bekommen. Das hat Leonore Gewessler und von dort wird das 1-2-3-Ticket kommen, mit dem man um rund 1.000 € im Jahr alle öffentlichen Verkehrsmittel in Österreich nutzen kann. Umfragen haben gezeigt, dass dieses Experiment gar nicht so schlecht gesehen wurde. Und als politischer Realist kann man sich damit durchaus abfinden. Und auch als Stratege, wenn man sich ansieht, wie die Wähler dieses Thema sehen:
Trotzdem merken die Grünen, dass sich etwas ändern muss.
Und der Schaden ist auch relativ offensichtlich für jeden, der sich mit Politik beschäftigt. Die SPÖ kann sich gerade neben den Grünen als die Linkspartei positionieren, die bei so etwas nicht mitgemacht hätte. (Auch, wenn uns die letzten großen Koalitionen gezeigt haben, dass sie definitiv mitgemacht hätte.) Auch die NEOS kritisieren die Grünen dafür, die ÖVP nicht plötzlich zur Menschenrechtspartei gemacht zu haben, und wollen enttäuschte Wähler abholen.
"Niemand will, dass wir mitten in einer Pandemie alles hinschmeißen und die ÖVP allein werken lassen. Aber sobald wir Corona im Griff haben, müssen wir gewisse Themen neu verhandeln.”
Das sagt dazu David Ellensohn im FALTER. Der Klubobmann der Grünen im Wiener Rathaus ist aus mehreren Gründen ein interessanter Charakter. Denn er ist auch einer der vielen, die gerade - nicht nur, aber vor allem auf Clubhouse - massiv auf Erklärungs- und Entschuldigungstour gehen, um Polit-Interessierten beizubringen, warum die Dinge so laufen, wie sie laufen.
Transparenz ist ein Wettbewerbsnachteil
Das ist für mich das eigentlich interessante an den Grünen. Man kann live dabei zusehen, wie eine Partei von der außerparlamentarischen Opposition in die Regierung wechselt und mit welchen Entscheidungen sie zu kämpfen hat. Und das macht sie nicht wie eine klassische Regierungspartei. In der ÖVP, der FPÖ und (manchmal) auch in SPÖ werden solche Themen hinter verschlossenen Türen diskutiert. Die Grünen aber machen das öffentlich. Oder zumindest teilöffentlich.
Und das ist vielleicht auch der große Fehler der Grünen. Denn in den Clubhouse-Räumen, in denen David Ellensohn, Nina Tomaselli oder Hans Arsenovic ihre Gedanken erklären, sprechen eben nur progressive Politiker. ÖVPler bleiben meist im Publikum. Und hören einfach zu, während der Koalitionspartner seine Strategie öffentlich macht.
Es ist also ein ungleiches Spiel zwischen der ÖVP und den Grünen. Die einen sind so lange an der Macht, dass heute 50-jährige nie gewählt haben, ohne dass am Ende eine schwarze Regierungsbeteiligung rausgekommen ist. Die anderen waren bis vor Kurzem nicht einmal im Parlament. Die einen haben ihre Hinterzimmer, ihre Netzwerke, ihre Berater und ihre interne Disziplin - die anderen den Austausch mit der Öffentlichkeit auf Social Media. Ist klar, warum die ÖVP die Grünen in jeder Verhandlung über den Tisch zieht, oder?
Ein Blueprint für die politische Zukunft
Trotzdem finde ich, dass die Grünen das gut machen. Denn zumindest ihren Kernwert der Transparenz erfüllen sie damit voll. Man kann der Partei, die man wählt, immer viel vorwerfen - aber bei den Grünen habe ich zumindest das Gefühl, dass sie sich wirklich bemühen, das Problem zu erklären und möglichst viele ihrer Wähler mitzunehmen. Das kann man schlecht finden, und es ist sicher ein Wettbewerbsnachteil - aber diese bedingungslose Transparenz in der eigenen politischen Strategiefindung finde ich faszinierend, und ich beneide keinen Grün-Politiker, der das jetzt wirklich durchzieht.
Für mich als Politikwissenschaftler und Medienjunkie ist diese transparente Strategie-Diskussion natürlich ein gefundenes Fressen. Aber ich empfehle wirklich allen Polit-Beobachtern, die die Möglichkeit dazu haben, da genau mitzulesen und hinzuhören. Denn 100-prozentige Transparenz mag ein enormer Wettbewerbsnachteil sein - sie kann aber auch als Blueprint dafür dienen, welche Fehler gemacht werden und wie man diese in Zukunft vermeiden kann. Ein Paradies für jeden, der Politik besser machen will.