Wenn man mich fragt, was ich in Politikwissenschaft so gelernt habe, kann ich oft keine g’scheite Antwort liefern. Die meisten erwarten sich, dass es eine Art Berufsvorbereitung auf den Job des Bundeskanzlers ist. Aber in Wahlzeiten kommt dann oft die Zeit der Powis - denn wir können halbwegs einordnen, warum Wahlen so ausgehen, wie sie eben ausgehen.
So war es auch bei der Abwahl von Donald Trump. Im Vorfeld haben mich viele gefragt, was ich dazu denke, weil ich ja 2016 schon früh auf Trump gesetzt habe. Diesmal war ich mir zu unsicher für klare Prognosen, obwohl die Umfragen Biden uneinholbar vorne sagen. Aber im Nachhinein ergibt es immer mehr Sinn, wie die Wahl ausgegangen ist.
Und wie Joe Biden die US-Wahl gewonnen hat, kann man unter anderem - und ich betone unter anderem, weil es eben eine von vielen Erklärungen ist -, mit einem Denkmodell der Politikwissenschaft erklären, das man Median Voter Theorem nennt.
Diese Theorie gehört zu den Basics der Politikwissenschaft, eben auch weil sie stark vereinfachend ist. Kurz zusammengefasst besagt sie, dass Parteien oder Kandidaten im Wahlkampf zur Mitte der Gesellschaft tendieren wählen, um Mehrheiten zu finden. Und dass der, der den “Medianwähler” - also den, der in der Grundgesamtheit aus linken und rechten Wählern genau in der Mitte liegt - erreicht, auch die gesamte Wahl damit gewinnen wird.
In der Metapher, mit der man es mir an der Uni erklärt hat, ist der Wählermarkt wie jeder andere Markt. Wenn man an einem heißen Tag am Strand liegt und ein Eis will, wird man zum nächsten Eiswagen gehen. Und am meisten Gewinn macht der, der die größte Menge an Käufern abholt. So wird sich der Wahlsieger in einem Mehrheitswahlrecht meist an dem orientieren, der knapp an der Grenze zum nächsten Kandidaten verortet ist. Wenn es nur zwei Eiswägen gibt, ist das der Medianwähler - aber das gleiche geht auch mit Mehrparteiensystemen.
Mehr darüber, wieso wir uns über Präsident Biden freuen sollten, lest ihr hier.
Joe Bidens Winning Coalition
Wie hat sich dieses Median Voter Theorem also auf die US-Wahl ausgewirkt? Die Theorie ist, dass Joe Biden bewusst einen Wahlkampf hingelegt hat, der Republikaner abholen kann. Und das ging so:
Joe Biden hat schon im Vorwahlkampf gegen Bernie Sanders und Elizabeth Warren klargestellt, dass er moderater ist als sie. Den Sanders-Vorschlag zu Medicare for All lehnt er ab, sein Plan sieht eine Option für alle vor, die ihre private Versicherung behalten wollen. Er stellte klar, dass er den Republikanern nicht einfach ihre Waffen wegnehmen werde. Das alles hat viele Demokraten gestört - aber die Strategie war eher, Republikaner zurückzuholen.
Donald Trump hat quasi die umgekehrte Strategie versucht. Er sprach ganz klar seine eigene Basis an und wiederholte im Wesentlichen seinen Wahlkampf von 2016 - nur, dass er diesmal lästigerweise als Präsident über 250.000 Corona-Tote mitverantworten musste. Er sprach von “Law and Order”, zwinkerte rassistischen Gruppierungen zu und gab sich kaum Mühe, seine Abneigung gegen die Demokraten und alle Städte, die von ihnen geführt werden, zu verstecken. Städte, die er verloren hat.
Trump hat also seine Basis ziemlich genau halten können und durch die Rekord-Wahlbeteiligung sogar dazugewonnen. Aber Biden konnte auch alle halten, die 2016 Hillary Clinton ihre Stimme gegeben haben - und mehr. “Anständige Konservative” und Menschen, die 2016 aus Protest gewählt haben und ihre Entscheidung bereuen, konnten Biden genauso gut wählen wie Wähler, die ihn gerne viel weiter links der Mitte sehen würden.
Insofern ist es nicht überraschend, dass es so passiert ist, wie es eben passiert ist: Wenn zwei Parteien das Land relativ fix in ihre Staaten aufgeteilt haben und nur wenige Swing States entscheiden, wo die Reise hingeht, dann gilt es eben, diese zu erobern. Oder zurückzuerobern, wie es Joe Biden eben in Georgia oder Pennsylvania geschafft hat.
Alternative Erklärungen
Das ist aber nicht die eine gültige Erklärung. Es gibt viele Erzählungen, die allesamt stimmen und nicht stimmen, weil sie eben nicht für alle gelten. Eine Wahl ist eine Zusammensetzung von vielen Millionen unterschiedlichen Wahrheiten, die alle zu einem Gesamtergebnis führen - und der Median Voter kann nicht der einzige entscheidende Faktor sein, auch wenn er als Erklärungsmodell viel hergibt.
Andere Erklärungen, wieso es zu diesem Wahlergebnis kommt, sehen zum Beispiel so aus:
Amerika hat Donald Trump satt und bestraft ihn für seine unglaublich verfehlte Pandemie-Politik, die über 250.000 Leben gekostet hat.
Joe Bidens Versprechen, Amerika zu einen und ein Präsident für alle Amerikaner zu sein, trifft in Zeiten von Polarisierung und Spaltung auf offene Ohren. (Auch für Europa interessant - lest mehr auf POLITICO.)
Durch die Black Lives Matter-Proteste wurden viele Menschen mobilisiert, die davor nie geglaubt haben, dass ihre Stimme etwas ändern könnte.
Progressive wie Bernie Sanders haben diesmal mit aller Kraft verhindert, dass ihre eigenen Anhänger nicht zur Wahl gehen. 2016 dürfte es eine entscheidende Rolle gespielt haben, dass Hillary Clinton nur das “geringere Übel” war.
Demographische Trends in den USA zeigen deutlich, dass junge Menschen und Einwohner von Städten liberaler sind als ältere Menschen und Landbewohner. Junge kommen nach, Alte sterben weg - und es leben immer mehr in Städten.
Nur ein Teil der Wahrheit
Wie immer in den Sozialwissenschaften sind Theorien mit extrem vielen Einschränkungen verbunden. Denn natürlich gewinnt nicht immer der, der den Medianwähler gewinnt, weil politische Meinungen nicht auf nur einer Achse linear aneinander reihbar sind. Dazu gibt es auch ein zu komplexes Themenspektrum in jeder Demokratie. Und Wahlen werden nicht nur durch Themen entschieden - viele Leute haben Donald Trump auch einfach gewählt, weil er ihnen immer noch sympathischer ist.
Darum ist dieses Beispiel eine gute Lektion darin, wie man Wahlen gewinnt: Gerade in großen Staaten wie den USA, die viele unterschiedliche Wählergruppen haben, kann man sich eine Mehrheit durchaus zusammensuchen und auch den Wählern anderer Parteien ein Angebot machen. So, wie es die ÖVP mit früheren FPÖ-Anhängern macht oder so, wie es die Grünen früheren SPÖ-Wählern gemacht haben.
Gleichzeitig wird mit dem Verweis auf diesen strategischen Wahlerfolg der Demokraten oft darauf verwiesen, dass nur diese der Königsweg für die Demokraten sein könnte. Die Erzählung lautet: Wer in die Mitte rückt, gewinnt Wahlen, wer nach links rückt, verliert sie. Dabei hat Donald Trump eindrucksvoll bewiesen, dass auch mit einem Ruck nach außen Wahlen gewonnen werden können - es kommt immer darauf an, welche Inhalte man verspricht, wie man sie verpackt und wie man auch die Bevölkerung mitnimmt, sich auf diese Experimente einzulassen.
Insofern würde ich stark abstreiten, dass populäre, aber auch umstrittene progressive Politikerinnen - und es sind meistens Frauen - wie Alexandria Ocasio-Cortez den Demokraten eher schaden. Bei dieser Wahl waren es gerade auch Gruppierungen, die von vielen als “radikal” wahrgenommen werden, die dabei geholfen haben, Wähler zu registrieren und nicht nur Republikaner, sondern auch frühere Nichtwähler zu mobilisieren. Menschen, die eine wirklich radikale Politik bräuchten, um ihr Leben zu verbessern - und “radikal” sind in den USA auch Dinge wie ein vernünftiges Sozialnetz, vernünftige Waffengesetze oder Maskenpflicht.