Hello again! Ich melde mich nach (für meine Verhältnisse) langer Zeit mal wieder über diesen Kanal. Ich war mit der Ehre beschäftigt, die Hochzeit von zwei Freunden zu moderieren, und dann eine Woche in Schottland.
Und wie man es macht als Politschädel, bin ich am Montag sofort zurück in die „Normalität“ gekommen - mit dem Sommergespräch von Herbert Kickl. Und wie fast immer, wenn ich dem FPÖ-Chef zuhöre, beschleicht mich das Gefühl, dass wir da gerade ordentlich etwas verschlafen.
Wir sind mitten in der „blauen Welle“
Für mich ist Herbert Kickl einer von vielleicht zehn rhetorischen Talenten in der österreichischen Politik - und einer von zwei, die in Spitzenpositionen sind. (Die andere ist meine Chefin, aber da bin ich offensichtlich biased.)
Dass Kickl wirklich einen Appeal haben dürfte, zeigt auch die Meinungsforschung: Keine einzige Umfrage im Jahr 2023 hatte die FPÖ nicht als stärkste Partei.
Und ich weiß nicht, wie es euch geht, wenn ihr das seht – aber mir geht es schlecht. So müssen sich Menschen in den USA gefühlt haben, die schon früh geahnt haben, dass Donald Trump Präsident wird. Es droht uns eine katastrophale Entwicklung. Und wir sind erstaunlicherweise ruhig genug, um uns mit Scheindebatten zu beschäftigen.
Ein paar Auszüge, warum Kanzler Kickl eine gefährliche Drohung wäre.
Eigentlich kann man das ja mit vielen Argumenten begründen. Einerseits, weil er ein klassischer FPÖ-Politiker ist und klassische FPÖ-Politik einfach schlecht ist. Andererseits, weil noch jede blaue Regierungsbeteiligung auf Bundesebene die Gerichte beschäftigt hat - die Partei hat nicht nur ein Rechtsextremismus-, sondern auch ein Korruptionsproblem. Dass die Freiheitlichen diese Behauptungen nicht mehr klagen, spricht glaube ich Bände darüber, wie offensichtlich das mittlerweile ist.
Und dann wäre da noch das Kokettieren mit dem Orbánismus oder die Tatsache, dass Kickl - mutmaßlich - kein so schlampiger Politiker wie Strache ist. Ohne Ibiza-Video wäre türkis-blau wohl munter weitergegangen. Wie schaffen wir es rechtzeitig raus aus dem nächsten Experiment? Aber gehen wir mal ein paar Gründe durch.
1. „Ausländer raus“ als Programm
Etwa durch „Ausländer-raus-Rhetorik“ als politische Pseudo-Lösung – wir erinnern uns noch, als er das Erstaufnahmezentrum in „Ausreisezentrum“ umbenennen ließ. Was hat das in der Realität geändert? Ein paar freundliche OE24-Headlines zählen nicht.
Aber de facto brauchen wir qualifizierte Zuwanderung gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels. Gerade im Pflege- und Gesundheitsbereich wird immer wieder deutlich, wie abhängig wir von (zynisch gesagt) „billigen Arbeitskräften“ aus dem Osten sind. Ein Kanzler Kickl wäre also eine Gefahr für viele Bereiche unseres Lebens.
2. Angriff auf die Justiz und Institutionen
Dass sich Herbert Kickl nicht viel um demokratische Institutionen schert, hat er auch im Sommergespräch deutlich gemacht. Dem Verfassungsschutz unterstellt er „linke Moral“, weil er die rechtsextremen Identitären beobachtet. Das passt zu seinem Verhalten als Innenminister, als er beim BVT (Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung) eine Hausdurchsuchung durchführen ließ.
Wenn Herbert Kickl sich als „Volkskanzler“ bezeichnet, klingt das für mich so, als würde er den „Willen des Volkes“ annehmen und über Wahlergebnisse und demokratische Institutionen stellen. Dabei zeigt sich der Wille des Volkes eben genau über Wahlen. Das heißt, dass Kickl Kanzler werden darf, wenn er gewählt wird. Aber das heißt nicht, dass nur noch seine Meinung gültig ist - oder dass jede Institution, die ihre Arbeit macht und dabei auch die FPÖ kritisiert, illegitim ist.
Unter einem Bundeskanzler Kickl hätten die Justizbehörden, der Rechnungshof, der Verfassungsschutz, Ermittlungsbehörden aller Art und die Polizei an sich einen mächtigen Gegner in der Regierung. Denn ihm geht es vor allem darum, diese Institutionen zu kapern. Und woher ich das weiß?
3. Offener Orbánismus
Kickl sagt in seinen Reden immer wieder „Machen wir es wie der Orbán“. Und wenn Viktor Orbán für irgendwas steht, dann für eine Scheindemokratie. In Ungarn gehören mittlerweile alle privaten Medien Freunden von Orbán, der öffentlich-rechtliche Rundfunk – den auch Kickl immer wieder angreift – wurde ebenfalls zur Propagandamaschine. Das gleiche gilt für die Justiz. Überall, wohin man in Ungarn schaut, sitzt Orbán.
Das hat mir zuletzt eindrücklich der Parteichef der ungarischen Liberalen, Ferenc Gelencser, persönlich erklärt. In einem Interview, das bald auf materie.at erscheinen wird, holte er weit aus und erzählte mir mit Beispielen, wie das Bildungs- und das Gesundheitssystem zerfallen. Ungarn hat eine Lebensmittel-Inflation von 50 %, und Orbáns Antwort darauf ist, in die Verfassung zu schreiben, dass der Vater ein Mann und die Mutter eine Frau ist.
Für mich klingt das stark nach den Ankündigungen der FPÖ. Auch sie konzentriert sich in ihrer Rhetorik – neben Corona-Verharmlosung und „Ausländer raus“ – auf identitätspolitische Scheindebatten, die hauptsächlich über amerikanische Medien zu uns rüberstrahlen. Wir sollten nicht den Fehler machen, uns davon ablenken zu lassen. Vor allem, wenn währenddessen die Demokratie Stück für Stück abgebaut wird.
4. Anti-wissenschaftlicher Kurs
Herbert Kickl leugnet wissenschaftliche Fakten. Er hat seinen Fans während der Delta-Welle - der tödlichsten Corona-Welle - empfohlen, auf Pferdeentwurmungsmittel zu setzen, statt sich impfen zu lassen. Seine Parteifreunde und er verbreiten Verschwörungstheorien und finanzieren „alternative Medien“, laut denen man meinen könnte, Bill Gates und die Echsenmenschen würden uns gerade alle versklaven. Obwohl es eigentlich nur darum ging, in einer Pandemie nicht krank zu werden.
Woran Kickl auch nicht glaubt, das ist der Klimawandel. Und weil dieses aktive Leugnen immer schwieriger wird – das 10. Jahrhunderthochwasser in diesem Jahrhundert lässt grüßen –, setzt er immer wieder auf das neue Playbook der fossilen Lobby: Verzögern ist das neue Leugnen. Er tut so, als würde Österreich nicht vom Klimaschutz profitieren (falsch), als käme es nicht auf jede Bemühung an (falsch) und als könnten die bösen Chinesen alleine die Welt retten (falsch).
Generell bin ich der Meinung, dass man sich für die Politik disqualifiziert, wenn man wissenschaftliche Fakten leugnet. Aber gerade angesichts dessen, dass wir nur bis 2030 haben, um unsere Klimaziele zu erreichen – und dann teure Nachzahlungen leisten müssen –, wäre ein Kanzler Kickl besonders bitter. Wir würden die letzte Chance verlieren, diese Ziele zu erreichen. Und je früher wir anfangen, die Energiewende umzusetzen (die ohnehin kommen muss – wir können uns das einfach nicht aussuchen), desto eher können wir noch davon profitieren, statt in zehn Jahren doppelt und dreifach dafür zu bezahlen.
Letzter Aufruf für politisches Engagement
Das war vielleicht lang, aber aus meiner Sicht nur eine kurze Aufzählung. Und ich glaube, wir verschlafen das gerade komplett. Ein Kandidat, der offen sagt, er will es wie der Demokratie-Abschaffer Orbán machen, kommt in Umfragen auf 30 % und wir debattieren über Klimaticket-Tattoos, Bargeld und was eigentlich „normal“ ist.
Eigentlich sollten wir über andere Dinge reden. Etwa darüber, was Türkis-Grün noch umsetzen könnte – wenn wir eine realistische Hoffnung hätten, dass da noch irgendetwas ginge. Oder eben darüber, was wir tun können, um Herbert Kickl zu verhindern: Einen Kanzler, der unseren Wohlstand vernichten und unsere Demokratie bedrohen würde. Genau darum geht es nämlich bei der nächsten Wahl.
Und ja, das klingt wieder nach diesem „Die FPÖ ist wieder da“-Diskurs, den wir seit Haider gefühlt immer schon führen. Aber der ist mir allemal lieber, als im Wachkoma auf das schlechtestmögliche Szenario zuzurasen: Eine FPÖ mit Herbert Kickl, gepaart mit einer ÖVP, die wahrscheinlich noch nie so schlecht aufgestellt war wie heute.
Wenn ihr auch nicht wollt, dass es soweit kommt, kann ich nur eines empfehlen: Jetzt wäre es an der Zeit, sich politisch zu engagieren. Oder zumindest zu informieren. Man muss keiner Partei beitreten, um ein politischer Mensch zu sein – aber wenn bei der nächsten Wahl zumindest mit dem Mythos Schluss wäre, dass „alle gleich sind“ und dass die eigene Stimme keinen Unterschied macht, wäre schon viel geholfen.
Im Endeffekt bekommt jede Bevölkerung das Ergebnis, das sie verdient. Und ich glaube, wir verdienen Besseres als einen Kanzler Kickl. Lasst uns daran arbeiten.
Noch mehr Lesestoff
🎮 Warum eSports zumindest „sportähnlich“ sein sollten. Ein Appell von mir zu einem Nischenthema, das mich schon lange beschäftigt. Ich bin selbst mehr E-Sportler als Sportler (was man auch an der Entwicklung meiner Figur in den letzten Jahren bemerken kann) und verstehe die Argumente, warum es „eigentlich das gleiche“ ist – immerhin zählt ja auch Schach als Sport. Mehr dazu lest ihr auf materie.at.
🇳🇪 Warum ich mich für den Niger interessieren sollte? Ich habe einige Erklärstücke dazu gelesen, weil mich gewundert hat, dass es ein (in Österreich) relativ unbekanntes afrikanisches Land dermaßen oft in die Schlagzeilen schafft. Mittlerweile bin ich schlauer – unter anderem wegen diesem guten Überblick im STANDARD.