Liegt es nur an mir, oder habt ihr auch manchmal den Eindruck, dass das Corona-Leugner-Camp sich immer weiter radikalisiert? Ich denke mir das immer genau dann, wenn ich eigentlich dachte, jetzt wäre der Höhepunkt erreicht.
Dass ich damit mal wieder falsch lag, beweist die unglaubliche Rede von Andreas Spanring, einem FPÖ-Bundesrat. (Und ja, ich bin mir bewusst, dass “FPÖ-Bundesrat” das wahrscheinlich irrelevanteste Wort der deutschen Sprache ist.)
Man kann nur zum wiederholten Male festhalten: Die sind anscheinend alle komplett wahnsinnig geworden. Und ich glaube, dass die aktuelle Lage in unserem politischen Diskurs nichts anderes zulässt, als eine Impfpflicht einzuführen und bis dahin auf möglichst strenge Maßnahmen zu setzen. Ja, ich weiß, ist vermeidbar und scheiße, aber lasst mich erklären.
Der offensichtliche Einwand: Why even bother?
Auf einer individuellen Ebene könnte es einem ja egal sein. Ich und mein Umfeld sind geimpft, und damit droht (hoffentlich) niemandem von uns ein schwerer Verlauf im Falle einer COVID-Infektion. Aber auf einer politischen Ebene ist das trotzdem relevant. Denn wir haben uns in den letzten Monaten still und heimlich damit abgefunden … dass ein großer Teil der Bevölkerung uns einfach wegsterben wird.
Man kann das zynisch wegnicken und einfach auf die natürliche Selektion verweisen. Auch ich bin da nicht anders, ich schreibe die ganze Zeit über die Freiwilligenwelle und dass jeder, der jetzt auf der Intensivstation liegt, es sich selbst ausgesucht hat.
Aber manche Geschichten gehen mir doch noch nahe - wie die von einem Impfgegner, die Corinna Milborn in der aktuellen ZEIT gebracht hat. Zusammenfassung von WATSON (weil ohne Paywall):
Wie «Die Zeit» berichtet, war Biacsics Anfang November mit niedriger Sauerstoffsättigung ins Krankenhaus Wiener Neustadt gekommen. Ein Corona-Schnelltest schlug an, der PCR-Befund bestätigte den Verdacht. Doch der ungeimpfte Biacsics habe eine Behandlung wegen Covid-19 abgelehnt, obwohl er auf seinen lebensbedrohlichen Zustand hingewiesen wurde, berichtete die «Zeit».
Er habe einer Ärztin gegenüber behauptet, die Krankheit bereits selbst besiegt zu haben. Er leide lediglich noch unter einer Lungenentzündung und unter Sauerstoffunterversorgung.
Weil man ihn in der Klinik nicht nach seinen Wünschen therapieren wollte, habe sich Biacsics gegen eine Aufnahme entschieden und sei wieder nach Hause gefahren, um sich dort mit Chlordioxid selbst zu behandeln. Kurz darauf starb Biacsics. Laut einer Todesanzeige seiner Familie am 10. November wurde er 65 Jahre alt.
Biacsics ist bekannter Impfgegner und hatte viele “Fans”, die ihm Zuspruch für seine Ablehnung von Wissenschaft gaben. Und da er nicht “nach eigenen Wünschen” mit Chlordioxid therapiert wird, lehnt er die Behandlung ab und stirbt. Vollkommen vermeidbar. Weil er sogar in seinen letzten Momenten nicht glauben konnte, dass es Menschen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten damit beschäftigt haben, besser wissen könnten als er.
Wenn es nicht um Todesfälle ginge, wäre das Ironie-Level schon lustig. So, wie es halt lustig ist, wenn sich Impfgegner:innen mit Pferde-Entwurmungsmittel “behandeln” und dann einfach an vermeidbarem Durchfall leiden.
Aber ich glaube, Leute wie Biacsics sind kein Einzelfall. Fakt ist: Es sterben gerade unzählige Menschen in Österreich komplett vermeidbar, weil sie einfach zu dumm sind.
Und ja, wow, er hat “dumm” gesagt.
Ich bin gegen Sugarcoating und würde fast ein Jahr nach der ersten Impfung in Österreich gerne festhalten, dass es absolut keinen Grund gibt, sich nicht impfen zu lassen. (Außer “ich will nicht zugeben, dass ich unrecht hatte”. Und das respektiere ich nicht.)
Speaking of Dummheit - die Geschichte mit Biacsics geht noch weiter:
Anhänger spekulieren nun auf Biacsics' Facebookseite, der Impfgegner sei möglicherweise einem Anschlag zum Opfer gefallen: «Man weiss nicht, was dahintersteckt, vielleicht wollte man ihn loswerden und hat ihn wirklich noch zusätzlich vergiftet», schrieb laut «Zeit» eine Anhängerin. Eine andere deutet an: «In meinen Augen wurde er vom System …» Und ein Mann meint: «Spätestens jetzt werden immer mehr Märtyrer geschaffen.»
Dass Biacsics Opfer seiner Covid-Erkrankung wurde, will auch sein Sohn nicht glauben: «Offiziell wird er als Corona Opfer in die Statistik einfliessen», schreibt er im Netz. «Doch ich weiss es besser.»
Stell dir vor, dein Vater stirbt an einer vermeidbaren Krankheit und du gibst immer noch nicht zu, dass es die Krankheit war. Er mag zwar tot sein, aber immer noch besser als dass er einfach … dumm war? Falsch lag? Nicht zugeben wollte, was immer offensichtlicher wurde?
Was Verschwörungstheorien und Falschinformationen mit der Gesellschaft machen, war bis vor der Pandemie nur ansatzweise vorstellbar. Wir haben zugeschaut, wie Donald Trump in den USA mit billigen Halbwahrheiten Präsident wurde und uns kurz gewundert, dass die Briten gegen jede Vernunft aus der EU austreten wollten - aber so war das nun mal. Wir haben uns mit der Wahrheit, dass “Gefühle nun mal auch eine Rolle spielen” abgefunden und weitergemacht wie bisher.
Jetzt aber wird klar: Gefühle sind alles.
Eine WhatsApp-Nachricht, die 100x weitergeleitet wurde und eine falsche Geschichte eines erfundenen Schwippschwagers einer Tante erzählt, ist für manche Leute ein viel stärkerer Beweis als der Konsens aller Mediziner:innen und Forscher:innen. Fakten sind nicht mehr ein Teil der Gleichung, die es in der politischen Debatte zu berücksichtigen gilt, neben Gefühlen. Sie sind für einen Teil der Bevölkerung komplett abgeschafft.
Und dieser Teil der Bevölkerung wird über die Pandemie in dramatischem Ausmaß wegsterben.
Wenn man gefühlskalter Sozialdarwinist wäre, könnte man sagen, dass das doch gut sei. Die dummen Meinungen sterben aus, die klugen bleiben, die Gesellschaft wird im Durchschnitt klüger und wir können aus der Krise gestärkt hervorgehen. Aber auch, wenn ich mich oft davon abschirmen will, was in Österreich abgeht - der Staat und die Gesellschaft haben eine gottverdammte Verantwortung, auch den letzten Trottel zu schützen. Und wenn das bedeutet, dass man ihn vor sich selbst schützen muss.
Darum finde ich gut, dass die allgemeine Impfpflicht kommt. Ich bin auch überzeugt, dass sie - sofern sie gesetzlich klug ausgestaltet ist - von vielen anderen Staaten übernommen werden wird. Irgendwann wird das eine komplett unkontroverse Idee, wie eben Impfungen im Mutter-Kind-Pass oder die Impfpflicht gegen Pocken back in the days.
Einerseits, weil diese Maßnahme wirkt und weil auch der letzte Volldepp irgendwann checken wird, dass … genau gar nichts passiert. Junge Frauen werden nicht unfruchtbar, frühere Impfgegner:innen werden vor schweren Verläufen geschützt und niemand wird an der Impfung sterben. Und andererseits weil die, die sich am lautesten dagegen beschweren, bis dahin teilweise schon tot sein werden.
Tote sind nicht egal, nur weil sie dumm waren.
Dass der politische Diskurs in Österreich so lange auf die Gefühle und die “gefühlten Wahrheiten” der dümmeren Hälfte der Bevölkerung Rücksicht genommen hat, ist das wahre Desaster dieser Pandemie. Zur Impfung zu kommen war eine Sache, aber stell dir vor es ist Impfung und keiner geht hin. Um keine Wahl zu verlieren und nicht kurzfristig 1-2 % in den Umfragen abzusinken, hat sich niemand getraut, das Offensichtliche auszusprechen. Und darum ist auch niemand mehr motiviert, impfen zu gehen.
Dazu kommt, dass die wahnsinnig gewordene FPÖ mit einem COVID-infizierten Klubobmann (um den es seit der Infektion sehr still geworden ist - als ob es ihm gar nicht so gut gehen würde) und die noch wahnsinnigere Single-Issue-Partei MFG den Anschein erwecken, dass es eine legitime Meinung sei, wissenschaftlichen Erkenntnissen ohne Gegenbeweis zu widersprechen. “Na wenn es die sagen, die sind immerhin Politiker, die kennen sich aus.” Ob es wirklich so g’scheit ist, die eigenen Wähler:innen zu einer potenziell tödlichen Krankheit zu verleiten, wird sich zeigen.
Hier übrigens noch ein Fun Fact aus dem MFG-Paralleluniversum.
Ich für meinen Teil will mich nicht damit abfinden, dass Menschen, die keine Ahnung von irgendwas haben, eben “ihre eigene Wahrheit” verfolgen und massenhaft über die Klippe springen. Weil Menschenleben eben nicht nur etwas wert sind, wenn sie intelligent genug sind, grundlegende wissenschaftliche Fakten zu akzeptieren.
Und auch, wenn es weh tut, sich auf den momentanen Zustand unserer Gesellschaft überhaupt einzulassen - dieses letzte bisschen Humanismus muss sein. Auch, wenn es unangenehme Maßnahmen bedeutet. Bis die Impfpflicht kommt, müssen wir mit noch einem Lockdown auskommen und weiterhin daran arbeiten, dass sich auch die letzten in unserem Umfeld impfen lassen. Damit wir niemanden aus unserem Umfeld eine vermeidbare Geschichte wie Biacsics werden lassen.
Zeit für Verantwortung.