Die Folgen des importierten Culture Wars
Das inhaltliche Niveau der politischen Debatte war noch nie so niedrig
Diese Woche hatte ich ein Gespräch mit einem Freund, das mir zu denken gegeben hat. Aber nicht inhaltlich - sondern die Art, wie wir das besprochen haben. Es ging um das Thema Sterbehilfe, und er hatte den Eindruck, dass wir komplett gegensätzliche Meinungen vertreten.
Meine Position ist eigentlich sehr einfach: Wer nur noch leidet und sterben will, soll das frei entscheiden können. Seine Meinung war wiederum, es dürfe kein Gesetz geben, bei dem Druck auf ältere Menschen ausgeübt wird, weil sie z. B. zu viel kosten.
Dem widerspreche ich überhaupt nicht - aber für ihn war meine Meinung automatisch, dass ein Sterbehilfe-Gesetz ja nur so aussehen könne. Dabei liegt ja kein konkreter Vorschlag auf dem Tisch. Ich hätte nur gerne einen.
Anhand dieses Beispiels will ich heute ein bisschen ausholen und erklären, wie ein importierter Kulturkampf den politischen Diskurs inhaltlich komplett ausdünnt. Und dafür fangen wir am besten gleich in den USA an.
Eine Befürchtung dazu, die ich in letzter Zeit oft gehört habe, ist die, dass der Culture War bei uns die gleiche Form annimmt wie in den USA.
Und “Culture War”, das ist so ein Wort, das man versteht, wenn man irgendwie daran beteiligt ist. Ich habe an anderer Stelle schon mal darüber geschrieben, wie sich der Kulturkampf konkret bei uns äußert - wer keine intuitive Ahnung hat, worum es da gehen könnte, kann hier gerne nachlesen:
Diese Gefahr, dass das bei uns genauso schlimm wird, halte ich aber für übertrieben. Immerhin leben wir in einer Konsensdemokratie, keiner Konfliktdemokratie wie den USA. Unser System zeichnet sich durch Koalitionen aus. Dadurch, dass man Mehrheiten finden muss. Und historisch auch dadurch, dass man möglichst viele Menschen einbezieht, sei das durch die Sozialpartnerschaft oder durch die Zivilgesellschaft.
Außerdem haben wir kein Zweiparteiensystem. Das halte ich ja für die größte Farce in den USA: Die größte Wirtschaftsmacht der Welt und es gibt politisch … zwei Ideen? Da wäre mehr drin - und es würde auch gut tun, den beiden Großparteien 1) ihre enormen Geldsummen und 2) das Argument “der andere ist schlimmer” wegzunehmen.
Bei uns ist die Gefahr eines “Wir gegen die” deswegen weniger ausgeprägt. Zumindest theoretisch.
Es gibt aber eine Partei, die aktiv daran arbeitet, das zu ändern. Und das ist die FPÖ.
Ich habe schon öfter darüber geschrieben, wie sich die Freiheitlichen nach Ibiza neu positionieren wollen. Zum Beispiel, als sie erkannt hat, dass Impfgegner die neuen “Inländerfreunde” waren. Und unter Herbert Kickl wird klar, dass das inhaltlicher Idealismus ist, sondern Strategie.
Es geht ihnen darum, ein möglichst breites Zelt zu bauen, das sich momentan noch nicht repräsentiert fühlt. Darunter fallen alle möglichen Arten von “Wutbürger”, die teilweise auch einfach wütend sind, weil sie falsch liegen. Die Bundespräsidentschaftswahl war ein Vorbote dafür, wie groß so ein Wählerpotenzial sein kann.
Denn in den wenigen Fragen, in denen die politische Situation eindeutig ist, stellt sich die FPÖ selbst ins Eck. Ein paar Beispiele:
Jeder in der Politik weiß, dass es ein Recht gibt, einen Asylantrag zu stellen, und dass man den Rechtsstaat nicht aussetzen sollte. Die FPÖ nimmt sich denen an, denen das egal ist.
Auch bei Impfungen ist die Situation eindeutig: Sie wirken, sie retten leben, sie sind gut erforscht, Medizin und Wissenschaft empfehlen sie. Nur die FPÖ nicht.
Es ist vollkommen klar, dass Russland der Aggressor im Ukraine-Krieg ist. Aber eine Allianz aus “Mir doch egal, solange ich heizen kann” und autoritären Putin-Fans ist eben auch eine Wählergruppe - die bei der FPÖ landet.
Und speaking of Heizen: Obwohl wissenschaftlich einwandfrei belegt ist, dass wir nur noch sehr wenig Zeit haben, eine Katastrophe zu vermeiden, verharmlost und leugnet die FPÖ den Klimawandel. Irgendwer muss diese Leute ja abholen.
So sind die Freiheitlichen nicht annähernd so salonfähig wie unter Strache, oder so edgy wie unter Haider. Aber sie arbeiten einfach daran, das größtmögliche Sammelbecken für Arschloch-Meinungen zu werden - und dieses Potenzial darf man in Österreich nicht unterschätzen.
Da hilft es dann auch wenig, dass wir mehrere Fraktionen und ein System der Konsensdemokratie haben. Wenn die FPÖ so tut, als wären alle anderen Parteien gleich - was sie nicht sind, weil sie sich bei allen Themen unterscheiden, die nicht komplett eindeutig sind -, untergräbt sie das Vertrauen der Bürger:innen in die Demokratie, das Parlament und den Rechtsstaat.
Eine Strategie, die übrigens direkt von den Republicans in den USA kommt: Newt Gingrich, der seit Jahrzehnten eine Schlüsselrolle einnimmt, hat genau so angefangen. Die Zeiten des bipartisanship, also der Zusammenarbeit beider Parteien bei sachpolitischen Anliegen, sind unter anderem deswegen vorbei, weil Gingrich diese abgesagt hat. Ihm ging es darum, die Demokraten zu schwächen und die Mehrheit zurückzuerobern - völlig egal, ob dadurch schlechtere Politik gemacht wird.
Das Ergebnis sind die polarisierten USA. Und Tendenzen, die sich auch bei uns spürbar machen.
Hat die FPÖ also nur die Trump-Partei kopiert?
Ich glaube, das ist nur die halbe Antwort. Man kann von der FPÖ halten, was man will, aber Kommunikation und Strategie versteht sie normalerweise sehr gut. Es kann also gut sein, dass die Themenauswahl der Partei strategisch passiert, um gegen eine angebliche “Einheitspartei” vorzugehen.
Die andere Erklärung dafür ist aber, dass der wahrgenommene Kulturkampf - also das Gefühl, dass man mit der anderen Seite immer weniger auskommt, dass der soziale Kitt verloren geht - immer mehr bei uns ankommt. Auch bei den Freiheitlichen sind einfach nur Menschen, die sich dieser Dynamik nicht entziehen können.
Die Folge: Die Nuancen gehen verloren.
Eine Auswirkung, die wir wahrscheinlich alle spüren, ist, dass der politische Diskurs inhaltlich extrem ausgedünnt ist.
Das beste Beispiel dafür ist unsere Neutralität. Finnland und Schweden - zwei Länder, die ebenfalls stolz auf ihren Status als “neutrale” oder zumindest “blockfreie” Staaten waren - haben im Eiltempo eine gesellschaftliche Debatte gestartet und entschieden, dass ihre Zukunft in der NATO sicher ist. Und auch Irland, von dem immerhin die “irische Klausel” kommt, mit der Österreich im EU-Kontext seine Neutralität absichert, hat einen Bürgerrat eingesetzt, um die Sicherheitspolitik der Zukunft zu diskutieren.
Und in Österreich? Da ist diese Diskussion abgelaufen wie jede andere auch. Abgefragt wird “Ja/Nein”, dann kommt eine Umfrage raus, und am Ende traut sich niemand, dagegenzureden. Der NEOS-Vorstoß, eine ehrliche österreichische Sicherheitsstrategie zu erarbeiten, wurde so verkauft, als wären wir für einen sofortigen NATO-Beitritt. Weil die komplexe Antwort, über die will keiner mehr reden.
Diese Logik ist schon sehr stark in uns drinnen.
Und ich glaube, das ist auch der Grund, warum mein Freund direkt geglaubt hat, dass ich eine Lösung befürworte, in der alte Menschen zur Sterbehilfe gezwungen werden.
Politik ist eine extrem komplexe Angelegenheit. Je mehr man sich damit beschäftigt, desto mehr versteht man, wie wenig man eigentlich darüber weiß und wie viele Informationen eigentlich noch fehlen. Welche Nachteile für spezielle, kleine Gruppen ein Gesetz in der Form haben könnte, die man für optimal hält. Was dann doch wieder gegen die “einfache Lösung” spricht.
Aber der politische Diskurs in Österreich ist nicht dafür gemacht, diese Graustufen in Vorschlägen zuzulassen. Es muss alles auf einer Ja-oder-Nein-Skala passieren - und wer die Diskussion startet, kann auch bestimmen, was diese beiden Extremwerte bedeuten. Für nuancierte Vorschläge, die auf mehrere Interessen Rücksicht nehmen und auch Verbesserungen zulassen, ist kaum mehr Platz.
Wir sollten eine bessere Debatte einfordern.
Auch, wenn unser System wesentlich besser darin ist, mit Unterschieden umzugehen und zu einem Konsens zu kommen: Polarisierung ist nicht nur ein Problem der USA, sondern kommt auch mehr und mehr bei uns an.
Dabei wäre es eigentlich im staatsbürgerlichen Interesse, dass wir ein System haben, in dem wir berechtigte Einwände ernst nehmen und auch zugeben, wenn andere eine bessere Idee haben. Ein System, in dem Regierung und Opposition anlassbezogen zusammenarbeiten können und sich gegenseitig ernst nehmen. In dem nicht jeder gute Vorschlag im Ausschuss vertagt wird, bis neu gewählt wird. Das ist aber eine Idealvorstellung - und weit weg von Klubzwang und Politics by Umfrage.
Diese politische Kultur können wir nicht im Alleingang verändern. Aber es ist sicher kein Fehler, wenn wir einen Mindeststandard an Seriosität von unseren Politiker:innen einfordern. Erst durch die geäußerte Nachfrage entsteht ein Angebot - und mein Gefühl ist, dass eine Partei alleine nur einen begrenzten Teil dazu leisten kann, dass die Nuance zurück in die Politik kommt.
Noch mehr Lesestoff
✌️ Wir brauchen eine neue Geschichte. Eine, die nach der großen Erzählung des Menschen als Konsumenten kommt. In Zukunft könnten wir uns alle als Citizen sehen, als Bürger:innen, die Veränderung einfordern und aktiv gestalten statt hauptsächlich passiv zu sein. Das ist zumindest die These im Text auf BBC Future.