Letzte Woche gab es neben Chatprotokollen und Corona ausnahmsweise ein drittes innenpolitisches Thema: Die SPÖ hat sich mit einem Vorschlag zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ins Gespräch gebracht. Demnach soll es nach sechs Jahren rechtmäßigen Aufenthaltes einen Rechtsanspruch auf die Staatsbürgerschaft geben, Kinder sollen sie automatisch bekommen, wenn ihre Eltern mindestens fünf Jahre legal in Österreich sind.
Der allgemeine Tenor ist ähnlich wie immer: Die SPÖ hat kein Gespür für irgendwas, eine schlechte Kommunikationsabteilung und schafft es nicht mal, die regelmäßigen Elfmeter zu verwerten, die Sebastian Kurz und seine ÖVP ihr auflegen. Statt sich auf die Chatprotokolle zu konzentrieren, liefert sie Vorschläge, die in Österreich keine Mehrheit haben, und nimmt sich damit sofort wieder aus der Debatte für die Neuwahlen, die ja angeblich vor der Tür stehen.
Eine schlecht kommunizierende SPÖ wäre jetzt nicht unbedingt eine Überraschung, und es ist fast schon Gewohnheit, das Schlimmste anzunehmen. Und ja, in dieser Erzählung stimmt einiges - aber eben nicht alles. Gehen wir es kurz durch.
Eine unpopuläre Idee? Ja.
Klar dürfte sein, dass Österreich in den letzten Jahren nicht gerade offen für Ideen war, die Ausländer:innen (yes, we gender now) das Leben leichter machen. Die FPÖ hat das Thema seit der Haider-Zeit vergiftet und dafür gesorgt, dass vor allem in ihrem Wählerpool Migrant:innen als Bedrohung wahrgenommen, irgendwo zwischen Sozialschmarotzern und Terrorist:innen. (Eher komisches Wort zum Gendern, sind ja tendenziell nur Männer, oder? Ich muss mir da noch eine Policy überlegen.)
Ich setze übrigens an dieser Stelle voraus, dass die meisten meiner Newsletter-Abonnent:innen reflektiert genug sind, um zu verstehen, warum diese Erzählungen zu Migration so falsch sind. Ja, sie beziehen oft Sozialleistungen und ja, sie sprechen oft nur gebrochen Deutsch. Das liegt aber nicht daran, dass das alles schlechte Menschen sind, sondern dass Deutsch eine schwere Sprache mit einer steilen Lernkurve ist, und dass fehlende Sprachkenntnisse nicht unbedingt wohlstandsfördernd sind. Die wenigsten verlassen ihr Land, weil ihr Leben so leiwand war - ich nehme jetzt einfach an, dass wir uns einig sind, dass „die Ausländer“ kein Problem sind.
Trotzdem ist die öffentliche Wahrnehmung da natürlich anders. Laut einer Befragung der OECD sehen nur 13 % der Österreicher:innen Migration positiv, 38 % sind dagegen und 75 % denken, dass sie Kriminalität erhöht. Eine Studie von GfK Austria bestätigt einen ähnlichen Trend uns zeigen, dass sich drei Viertel vor dem “radikalen Islam” fürchten bzw. davon besorgt sind.
Das zeigt sich auch bei anderen Parteien: In der aktuellen Marketagent-Umfrage anlässlich des grünen Bundeskongresses sind die Befragten ziemlich gespalten, ob die Grünen eine “anständige Haltung in der Ausländerpolitik” haben.
In Migrationsfragen gelten die SPÖ und die Grünen als ziemlich nahe. Beide wollen einen relativ offenen Kurs und reden gerne von “Menschlichkeit”, lassen sich aber konsequent von der ÖVP überstimmen. Die Umfrage legt auch den Grund dafür nahe: Eine progressive Migrationspolitik hat in Österreich keine Mehrheit, beide Parteien können dadurch nicht viel gewinnen. Politisch ist es angenehmer und gewinnbringender, diesen Bereich der ÖVP zu überlassen und sich auf die eigenen Kernthemen zu konzentrieren, zum Beispiel Umweltschutz oder Arbeitsmarkt. (Netter Nebeneffekt: Wenn es grauslig wird und Kinder abgeschoben werden, ist in der öffentlichen Meinung tendenziell die ÖVP verantwortlich.)
Der falsche Zeitpunkt? Nein.
Was mich an der Kritik am SPÖ-Vorschlag stört, ist also nicht die Behauptung, dass das ein unpopulärer Vorschlag sei. Das stimmt vermutlich wirklich. Es ist eher das Narrativ, dass es mal wieder im genau falschen Moment platziert wurde. Denn das - so gern ich die SPÖ für ihr Agenda-Setting kritisiere - … stimmt einfach nicht?
Ein wesentlicher Kritikpunkt am Timing der Sozialdemokrat:innen liegt in der Vermutung, dass es bald Neuwahlen gibt. Und wie ich schon mehrmals geschrieben habe: Das ist einfach nicht so wahrscheinlich, weil niemand davon profitiert.
Wenn wir bald neu wählen - und das ist ein großes Wenn - hat die SPÖ den Vorschlag nicht im Wahlkampf lanciert. Wir wissen nicht, mit welcher Parteispitze die Roten in die nächste Wahl gehen und mit welchem Programm. Ein Vorschlag, der vor dem Wahlkampf getätigt wurde, ist in der durchschnittlichen Bevölkerung sehr schnell wieder vergessen. Wenn man davon ausgeht, dass gewählt wird und dass man den Vorschlag trotzdem irgendwie platzieren muss - dann wäre der beste Zeitpunkt „so schnell wie möglich“.
Wenn wir nicht neu wählen, dann ist das erst recht gutes Timing. Pamela Rendi-Wagner mag keine Rampensau sein, die Bierzelte mitreißt und Fans inspiriert. Aber was man ihr zugute halten kann - und das ist eine der wenigen positiven Meinungen, die sich über die SPÖ halten - ist, dass sie eine seriöse Sachpolitikerin ist. In Nicht-Wahlzeiten, die schnell vergessen sind und in denen solche Vorschläge nach ein paar Tagen keinen mehr interessieren, kann man mit solchen Personen arbeiten: Wenig aufregende Leute, die inhaltliche Konzepte vorstellen.
Das andere Argument für schlechtes Timing wäre, dass die ÖVP jetzt über etwas anderes reden kann als über die Chatprotokolle. Und das tut sie, in dem sie … vom “großen Austausch” redet. Die Erzählung der Volkspartei, dass die SPÖ nur die Staatsbürgerschaft lockern wolle, um die Mehrheitsverhältnisse im Land zu ändern, ist sehr nahe an der Verschwörungstheorie von Identitären bis Neonazis - und ja, es wird mal wieder nicht so gemeint sein. Aber wie patschert sich die ÖVP anstellt, seit die Chatprotokolle sie nervös machen, ist schon verwunderlich. Ob sie von dieser Rhetorik wirklich so profitiert, habe ich schon in meinem letzten Newsletter bezweifelt.
Für mich bedeutet Opposition jedenfalls nicht, dass man so lange schreien muss, bis die Regierung zurücktritt. Nicht nur, dass in der Regel wenig davon hängen bleibt - es könnte auch genau das Kalkül von Sebastian Kurz sein. ÖVP-Wähler:innen sollen glauben, dass die Opposition (und dazu werden mittlerweile auch kritische Medien gezählt) „permanent skandalisiert“ und dass man ihr nicht mehr zuhören muss. Das stellt übrigens auch der ECONOMIST fest:
He is banking on outrage fatigue, with voters taking each revelation a little less seriously than the one before, until any fresh accusation is not worth much at all.
Dass sich die SPÖ zu den Chatprotokollen durchaus äußert - sie kommt dazu ja nach wie vor in der Medienberichterstattung vor -, aber eben auch andere Themen setzt, könnte sich auf Dauer als intelligent herausstellen.
Die nächsten Schritte
Die SPÖ hat also einen Vorschlag gemacht, der in Österreich vermutlich keine Mehrheit hätte. So kontrovers, wie viele tun, ist er aber nicht. Die Staatsbürgerschaft etwas mehr an andere westliche Demokratien anzupassen, ist keine Entwertung der Staatsbürgerschaft, sondern eine Idee, die man durchaus diskutieren kann. Auch andere Staaten wie Deutschland, Frankreich oder die USA sind da deutlich liberaler als wir und fahren damit nicht wahnsinnig schlecht. Die Frage ist, ob man aus dieser Diskussion wirklich etwas gewinnt.
Unabhängig davon, ob die Idee der SPÖ g‘scheit ist - das Timing war nicht das Problem. Solange nicht Wahlkampf ist, ist es sicher nicht schlecht, sich auf Sachpolitik zu konzentrieren und nicht nur Kampagne zu machen. Das ist auch etwas, was die Sozialdemokratie im nächsten Wahlkampf nutzen kann: „Wir haben nicht nur ‚Kurz muss weg‘ geschrien, sondern auch Vorschläge gemacht.“
Wenn ich die Partei beraten würde, könnte ich mit diesem Ist-Stand arbeiten. Rendi-Wagner positioniert sich als seriöse Kandidatin, die nur an Policy interessiert ist und nicht nur Stimmung machen will - und weicht dann vor dem Wahltag für eine geeignetere Person (die man schleunigst suchen sollte). Man sollte sie als Gesundheitsministerin einsetzen, da nach der Pandemie jeder wissen sollte, dass sie Ärztin ist und damit hohe Glaubwürdigkeit genießt. In einem Abwehrkampf “Kurz gegen alle” könnte sie dann darauf verweisen, durchaus konstruktiv gewesen zu sein - aber die böse ÖVP habe ja alles abgewunken.
Wenn sie g’scheit sein wollen, spielen sie es so. Bis dahin bleibt nur festzuhalten: So ein Desaster war dieser Vorschlag gar nicht.