Warum Social Media immer mehr nach Einheitsbrei aussieht
Und was das für User:innen, Unternehmen und die Plattformen bedeutet
Habt ihr auch den Eindruck, dass soziale Medien sich irgendwie immer … ähnlicher werden?
Es liegt nicht nur an euch: Die meisten Social-Media-Plattformen stecken gerade in einer massiven Identitätskrise. Oder wer von euch könnte mir kurz und knackig in einem Satz sagen, wofür die App Instagram eigentlich da ist?
Wie stark dieser Trend ist, zeigt eine Auflistung von üblichen „Social-Media-Funktionen“, die man mittlerweile auf immer mehr Plattformen finden kann:
Die Grafik ist sehr deutlich. Und unvollständig! Mittlerweile ist eine weitere Kategorie dazugekommen: Social Audio, aufgekommen durch die App Clubhouse, die im Frühjahr 2021 einen regelrechten Hype erfahren hat, nur um sofort von allen kopiert zu werden. Plattformen Facebook, Discord, Reddit, Twitter und Spotify arbeiten alle entweder an einem Clubhouse-Klon oder haben schon einen veröffentlicht - man sieht, wie schnell diese Ähnlichkeit der Social-Media-Konzerne voranschreitet.
In diesem Artikel will ich auf diesen Trend des „ähnlichen Webs“ eingehen und aus drei Perspektiven zeigen, was das bedeutet: Für die Plattformen selbst, für Unternehmen (und Institutionen, Persönlichkeiten und alles andere, was unter „Werbetreibende“ fallen könnte) und für die User:innen.
Das ähnliche Web für Plattformen
Als User:in drängt sich zuerst die offensichtliche Frage auf: Warum machen die das?
Glaubt LinkedIn, dass wir Stories - den privateren Kanal, der explizit für spontane und wieder verschwindende Inhalte gedacht ist - jetzt auch noch für unser Professional Life verwenden? Was erhofft sich Twitter von Foto-Filtern? Reddit Live-Videos, what the hell? Haben die Plattformen den Verstand verloren und überschätzen einfach maßlos, was ihre Nische ist und was nicht?
Dahinter steckt wahrscheinlich kein größenwahnsinniger Social-Media-CEO, der einfach nicht weiß, mit wem er sich anlegt. Sondern ein Markt, der gerade unglaublich in Bewegung ist.
Facebook gilt als de-facto-Monopol in Sachen Social Networking. Aber es gibt immer noch genug Nischen, die nicht besetzt sind.
Twitter ist der Kurznachrichtendienst für alles Wichtige, was auf der Welt passiert. Hier spielt sich Journalismus ab, man bekommt Nachrichten in Echtzeit und ja, auch Popkultur wird immer noch stark von Twitter geprägt.
TikTok ist eine Videoplattform, die von der Kreativität ihrer User:innen lebt und Trends längst nicht nur noch im Musik-Bereich bestimmt.
LinkedIn ist ein Karrierenetzwerk, das für Netzwerken in vielen Bereichen unverzichtbar geworden ist und Menschen Job-Gelegenheiten bringt.
Facebook ist … ???
Die Antwort ist, dass Facebook alles sein will. Marketplace ersetzt Amazon und ebay, Facebook Dating ersetzt Tinder, Facebook Gaming ersetzt Twitch, der eigene Clubhouse-Klon ist in Arbeit.
Aber auch die obigen Beispiele, die erfolgreich ihre Nische gefunden haben, sind unter Druck: Mit Facebook Jobs versucht der Konzern, LinkedIn Konkurrenz zu machen, und Instagram Reels ist der offensichtliche TikTok-Klon. (Friendly Reminder: Instagram und WhatsApp gehören Facebook und der Insta-Chef hat vor Kurzem verkündet, dass Instagram keine „Foto-Sharing-App“ mehr sei.) Sogar Substack - die Plattform, über die ich diesen Newsletter verteile - wurde mittlerweile von Facebook nachgemacht.
Das bedeutet Konkurrenzdruck. Und darum will jedes Social Network alles anbieten können. User:innen genießen Stories? Warum nicht auf meiner Seite? Sie wollen miteinander über Audio reden? Wieso nicht hier? Streamer:innen beim Spielen zuschauen? Warum nicht?
Das ständige Kopieren von neuen Social-Media-Features bedeutet also nicht, dass das allen Anbietern so viel Spaß macht. Sie sind Getriebene und wollen nicht in die Irrelevanz fallen.
Das ähnliche Web für Unternehmen
Als jemand, der Werbung schaltet, ist das für mich ein guter, wenn auch anstrengender Trend. Ich kann auf mehr und mehr Plattformen die Botschaften meiner Kund:innen rüberbringen, die verschiedenen Vorteile und Zielgruppen nutzen und damit noch besser arbeiten. Dadurch wird auch Expert:innenwissen immer wichtiger - eine gute Zeit für kompetente Kommunikations-Agenturen.
Gute Kommunikation wird aber auch schwieriger, da man neue Grundsatzentscheidungen treffen muss. Die Produktion von Inhalten ist für jeden Kanal mit Mehraufwand verbunden, wenn man einen gewissen Professionalitätsanspruch hat - es gibt aber auch immer noch die, die ein quadratisches Bild auf jedem Kanal verwurschten. Aber ein Facebook-Post ist keine Instagram-Story ist kein TikTok ist kein Tweet. Daher fragen sich viele jetzt gerade: Muss ich auf TikTok jetzt auch noch sein? (Die Antwort ist: Wahrscheinlich Ja.)
Diese Grundsatzentscheidungen werden tendenziell nicht seltener. Spotify z. B. hat angekündigt, im Event-Bereich Fuß fassen zu wollen. Der erste, der ein Spotify-Event in Österreich macht, bekommt entweder einen Kreativpreis für Innovation oder versemmelt fünf- bis sechsstellige Beträge für einen Flop. Und da noch niemand Erfahrung damit hat, kann man sich auch an nichts orientieren außer an einer guten Einschätzung.
In Österreich ist das eine paradoxe Situation. Denn während sich dieser Trend verstärkt, gibt es immer noch Institutionen, die nicht auf Facebook sind. Geschweige denn auf Instagram oder TikTok. Wir leben also in einem Land, in dem viele noch nicht einmal überrissen haben, dass soziale Medien schon längere Zeit der wichtigste Kanal für Kommunikation sind - und in dem gleichzeitig unglaublich komplexe Entscheidungen zu treffen sind darüber, wo man für welche Zielgruppe kommuniziert. Menschen mit Sender-Empfänger-Logik, die bei Postings noch von „Aussendungen“ sprechen, treffen auf eine Welt, in der sie längst von sozialen Medien in die Rolle des Antwortenden gedrängt werden.
Für Unternehmen und andere Werbetreibende ist die Situation also sehr komplex: Man kann enorm viel verlieren und gutes Social-Media-Management ist Arbeit. Aber wenn man es gut macht, kann man umso mehr gewinnen.
Das ähnliche Web für User:innen
Am Ende zählt im Social-Media-Bereich v. a. eines: Die User Experience. Egal, wie gut ein Produkt ist - wenn es niemand genießt, war alles umsonst. Ein gutes Beispiel dafür ist Facebook, das seinen Peak möglicherweise schon überschritten hat. Die Plattform bietet alle möglichen Features an: Stories, eine richtig gute Chat-Software, Gruppen, einen eigenen Marktplatz mit integriertem Bezahlungstool, Spiele, Events, Erinnerungen, ein Klimawandel-Info-Center, eine Mental-Health-Sektion, eine Dating-Software, einen eigenen Videoplayer, und und und. TikTok dagegen zeigt dir kurze Videos im Hochformat … und boomt!
Für uns als User:innen war das Internet vermutlich nie offener. Mir persönlich macht Facebook keinen Spaß mehr, weshalb ich den Link auch aus meiner E-Mail-Signatur genommen habe - ich kann ja auch auf Twitter Leute erreichen. Wem es hauptsächlich um Networking geht, der ist auf LinkedIn besser aufgehoben und muss nicht zwangsläufig andere Kanäle bespielen. Kurz: Wir haben momentan eine riesige Auswahl an Plattformen, die sich rasend schnell weiterentwickeln, um jedes unserer Bedürfnisse zu erfüllen.
Spannend wird es, zu verfolgen, wer sich in welchem Bereich „durchsetzt“. Es sieht nicht so aus, als würde die Relevanz von TikTok bald einbrechen. Gleichzeitig darf man Facebook nicht abschreiben, weil sie massiv in die Zukunftstechnologien Virtual und Augmented Reality investieren. Und aus irgendeinem Grund weigert sich Snapchat beharrlich, einfach zu sterben.
Aus Sicht der User:innen ist die Ähnlichkeit der Social-Media-Plattformen also vielleicht nicht sofort verständlich - aber sie ermöglicht, dass jeder den Kanal finden kann, der einem am meisten Spaß macht. Und um Spaß sollte es ja eigentlich immer noch gehen.
Damit: Viel Spaß beim Doomscrollen heute